SZ, 23. September 2022, 18:53 Uhr

 

Scharenweise fliehen junge Russen vor ihrer Einberufung. Diese Menschen haben Schutz verdient - und Asyl in der EU.

Kommentar von Gökalp Babayiğit

 

Rechtlich ist die Sache klar. "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." So präzise steht es in Artikel 16 des Grundgesetzes. Dass jene russischen Reservisten, die nach Putins Teilmobilmachung in Scharen ins Ausland flüchten, politisch Verfolgte sind, dürfte nur schwer zu widerlegen sein. Wer zuletzt in Moskau oder Sankt Petersburg gegen den erzwungenen Dienst an der Waffe demonstrierte, musste mit seiner Verhaftung rechnen - Hunderte landeten im Gefängnis. Wer sich weigert, an Putins völkerrechtswidrigem Krieg gegen die Ukraine teilzunehmen, verdient nicht zehn Jahre Haft, wie es der Föderationsrat per Gesetzesänderung festgelegt hat. Er verdient Schutz vor den Repressionen - und Asyl in der EU.

 

Dass dies alle demokratischen Parteien in Deutschland so sehen, ist eine erfreuliche Abwechslung zu den sonstigen Meinungsverschiedenheiten in der Frage, wie die Ukraine zu unterstützen und wie Russland zu schwächen sei. Laut Innenministerium ist die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration bereits seit April so geändert, dass die Kriegsdienstverweigerung als Schutzgrund anerkannt wird. Auch Sicherheitsprüfungen finden richtigerweise nicht statt.

 

Es spielt dabei keine Rolle, ob die Asylsuchenden immer schon offen Regimegegner waren - das wird für die wenigsten zutreffen - oder einfach nur ihre Haut retten wollen. Jeder Soldat, der sich nicht von Putin für diesen mörderischen Krieg missbrauchen lässt, ist ein Gewinn. Die EU sollte mit einem Willkommenssignal klarmachen: Neben Gefängnis und Einberufung gibt es für die russischen Reservisten eine dritte Option.

 

 

Kommentar zum Kommentar

 

In Scharen verließen russische Männer im wehrfähigen Alter Russland, meldet die Süddeutsche Zeitung. Sie wollten nicht in Putins Krieg kämpfen. Männer, die den Kriegsdienst verweigern, sind harten Repressalien ausgesetzt. Auch in der Ukraine holen sich die Militärs, was sie brauchen. Wehrfähige Männer dürfen das Land nicht verlassen.

 

Mich erstaunt der Bedarf an Kämpfern. Im hochtechnisierten Krieg seien Spezialisten gefragt, dachte ich. Ein Irrtum, wie sich jetzt in der Ukraine zeigt. Auch der moderne Krieg braucht Kanonenfutter. Auf beiden Seiten sind bereits tausende junger Männer krepiert. 

 

Wer da einfach nur seine Haut retten will, ist weder ein Feigling noch ein Verbrecher, sondern ein Mensch, der leben will, ein Mensch, der nicht töten will. Deshalb landet er im Knast, auch in der Ukraine.

 

Bisher weiß niemand, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden kann. Fast alle scheinen zu glauben, mehr Waffen könnten den Sieg sichern, der dann vielleicht Frieden brächte. Deserteure haben dazu anscheinend nichts beizutragen. Sie sorgen sich um ihr Leben. Sie müssen sich vorwerfen lassen, Egoisten zu sein.

 

Krieg zwingt Menschen ins Kollektiv. Wenn der Gestellungsbefehl kommt, hört das Individuum auf zu existieren. Erwachsene Menschen werden zu Befehlsempfängern. Wer glaubt, Staaten hätten das Recht, ihre Bürger zur Selbstaufgabe zu zwingen, sollte sich ausmalen, was ihm geschähe, würde er plötzlich eingezogen. 

 

Wir könnten von Deserteuren lernen. Auch die vermeintlichen Feiglinge unter ihnen haben Mut. Sie sagen nein, wenn alle ja brüllen. Damit tragen sie dazu bei, dass Frieden überhaupt denkbar wird.

 

Die Europäische Union muss allen Deserteuren dieses Krieges Asyl gewähren.

Stefan Moes