Die Naivität der Krieger

 

 

Über das verdrängte Sterben

Innerhalb von vier Jahren werde Deutschland kriegstüchtig, versprach Bundeskanzler Scholz vor drei Jahren. Als ich in der Tagesschau sah, wie Olaf Scholz, der sich privat vielleicht immer noch als Antimilitarist sieht, in einer Rüstungsfabrik versonnen Granaten streichelte, fühlte ich, wie tief die Militarisierung der Gesellschaft jeden Einzelnen und jede Einzelne prägt. Mir fiel wieder ein, dass im September 1975 ein Ausschuss der Bundeswehr verlangte, ich solle Gewissensgründe angeben, die meinen Entschluss, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, rechtfertigen könnten. Damals war ich 19 Jahre alt.

 

Wenn ich abends spät nach Hause kam, lag mein Vater in einem Fernsehsessel und lenkte sich mit dem Programm der beiden öffentlich-rechtlichen Sender von seiner Todesangst ab. Ich setzte ich mich zu ihm, bis die Nationalhymne den Sendeschluss verkündete. Wir redeten nicht viel. Unausgesprochen stand zwischen uns, was wir beide wussten: ihm würden nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Mein Vater hatte im russischen Winterkrieg massenhaft Menschen erfrieren und qualvoll sterben sehen. Er unterstützte meine Kriegsdienstverweigerung.

 

61 Jahre alt, kämpfte er seinen letzten Kampf gegen den Krebs, der seine Leber auffraß. Ich war bei ihm, als er starb. Seitdem weiß auch ich, wie schrecklich das Sterben sein kann. Inzwischen bin ich fast 70 Jahre alt und stelle fest, wie wenige meiner Altersgenossen diese Erfahrung gemacht haben. Viele werden zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert, wenn sie ihm selbst begegnen. Vielleicht erklärt das die Naivität, mit der Journalisten den Heldentod feiern. Auf einem Kriegerdenkmal in der Hamburger Innenstadt ist zu lesen: Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen. Nationalsozialisten errichteten es. Heutzutage verkünden bürgerliche Medien, der Einzelne müsse bereit sein, sich zu opfern, für etwas, das größer sei als er selbst.

 

Viele Bürgerinnen und Bürger wirken inzwischen kriegssüchtig. Die Medien zeigen Freiwillige, die als Heimatschützer mit Gewehr-Attrappen, die Gesichter geschwärzt, in Camouflage durch Stadtparks robben. Sie wissen nicht, was sie tun.

 

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