Fragen eines Pazifisten an Pazifisten.
Schreibst du noch? fragt eine Freundin. Warum sollte ich? antworte ich. In der Nacht zuvor trugen Bomber der US-Armee ihre Last über den Atlantik, um sie auf iranische
Atomanlagen zu werfen. Wir befinden uns wohl im dritten Weltkrieg. Wegzuschauen nützt nichts. Zu schreiben nützt anscheinend ebenso wenig.
Als Bürger kapitalistischer Staaten sind wir gewohnt, Krieg zu führen. Wir bekämpfen die Natur, indem wir Bodenschätze plündern, Wälder roden, die Luft verpesten und Gewässer vergiften. Pflanzen
und Tiere zwingen wir, den Artentod zu sterben. Wir bekämpfen die wachsende Zahl derer, die wir aus unserer Gesellschaft ausschließen. Wir bekämpfen die Nachgeborenen, die wir für unseren
Lebensstil zahlen lassen. Jeder kann das wissen. Kaum jemand will es wissen.
Das Narrativ lautet: der freie Westen verteidigt sich und seine Werte gegen Aggressoren. Wir können gar nicht anders, als die Guten zu sein, die das Böse bekämpfen.
Während der Corona-Pandemie machte ich eine seltsame Erfahrung. Freunde und Bekannte verlangten, ich solle einfach mal der Regierung vertrauen. Die Verantwortlichen gäben ihr Bestes. Viele
bekannten, froh zu sein, in dieser komplexen Lage keine Verantwortung zu tragen. Die das sagten, waren ausnahmslos Menschen, die ich wegen ihrer politischen Erfahrung schätzte. Ich kannte sie als
Aktivisten in Friedensgruppen und Anti-AKW-Initiativen der 80er Jahren. Damals kämpften wir für Abrüstung und Bürgerrechte.
Wir wehrten uns gegen den Bau von Atomkraftwerken, weil diese Form der Energiegewinnung nicht nur die Gesundheit von Menschen bedrohte, sondern auch die Demokratie. Die Gefahr radioaktiver
Verstrahlungen erforderte einen kontrollierenden, möglichst allwissenden Staat, den Atomstaat.
Einige alte Kämpfer traf ich kürzlich anlässlich eines 80. Geburtstags. Eine Freundin sprach aus, was anscheinend alle wünschten: kein Wort über aktuelle Politik. Zu lächerlich und
zugleich zu bedrohlich sei das, was der Clown auf dem Präsidentenposten aufführe. Also erzählten wir uns ein weiteres Mal die 50 Jahre alten Heldentaten. Und merkten nicht, dass unsere Kinder und
Enkelkinder etwas Besseres verdienten.
In Deutschland preisen Politiker den Erfolg der atomaren Abschreckung. Ihr verdankten wir 70 Jahre Frieden. Was sie verschweigen: der Frieden in Europa war allenfalls ein lokaler
Waffenstillstand. Die Großmächte trugen ihre Stellvertreterkriege in der sogenannten Dritten Welt aus. Abschreckung funktionierte schon damals nicht. Viel weniger funktioniert sie in einer
multipolaren Welt. Die Rüstungsindustrie freut sich auf nicht enden wollende Aufträge: die Kurse der Waffenschmieden steigen.
Man stelle sich vor, ein pazifistischer Think Tank stellte der ukrainischen Regierung ein Konzept für eine soziale Verteidigung vor, mit dem die russische Aggression gestoppt werden könnte. Das
würde allerdings innerhalb von zwei Jahren eine Millionen Tote fordern. Man würde sie für verrückt halten. Aber genauso sieht die Zwischenbilanz des Krieges aus. Militärs haben Pazifisten etwas
Wesentliches voraus. Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Sie reden nicht über ihre Opfer.
Als junger Mann verweigerte ich den Kriegsdienst, weil ich nicht auf Befehl töten wollte. Daran halte ich fest. Mich erstaunt, wie leichtfertig ältere Herren erklären, für das Vaterland zu töten
und zu sterben sei ehrenhaft. Auf einem Kriegerdenkmal in der Hamburger Innenstadt ist zu lesen: Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen. Nationalsozialisten errichteten es.
Das Individuum müsse bereit sein, sich zu opfern, für etwas, das größer ist als es selbst, schwelgen heutzutage Kolumnisten bürgerlicher Medien.
Wer mitmacht, dem gewährt der Staat für die Zeit des Krieges Straffreiheit für Taten, die ihn sonst lebenslang ins Gefängnis brächten. Noch vor 36 Jahren hätten Bundeswehrsoldaten Deutsche, die
Bürger der DDR waren, erschossen, weil sie Feinde waren. Jetzt kämpfen Ost- und Westdeutsche Seit´ an Seit´ gegen Russland. Um Krieg zu führen, muss man sich dumm stellen, muss seinen
Lebenswillen vergessen, seine Empathie auf die beschränken, die denselben Pass haben. Die Nation ist eine Mogelpackung.
Aber wir können doch Putin nicht nachgeben. Nein, das können wir nicht. Wir können überhaupt nur hoffen, dass es keinem der mehr oder weniger Irren, die weltweit an der Macht sind,
einfällt, den roten Knopf zu drücken. Bis dahin müssen wir jede Chance nutzen, den Kriegern in den Arm zu fallen, indem wir zivilen Ungehorsam leisten und zu Verhandlungen aufrufen. Aber nie
dürfen wir vergessen, was nicht verhandelbar ist: die Würde des Menschen.
Die Pazifisten, die Menschenfreunde, die Klugen, die Mitfühlenden, haben vorerst verloren. Wir konnten die Erfahrungen des ersten und zweiten Weltkriegs nicht in Erfolge ummünzen. Es gelang den
Pazifisten nicht, die Kriegsmüdigkeit zu nutzen. Gegenwärtig haben Friedenskämpfer keine Basis. Auch, weil ziviler Ungehorsam Mut und Opferbereitschaft erfordern. Krieg funktioniert auch mit
feigen Mitläufern. Das spricht für ihn und besiegelt unsere Niederlage.
Was tun? Mutig sein. Krieg als das Verbrechen bezeichnen, das er ist. Öffentlich Nein sagen, wenn alle Ja sagen. Solidarisch sein mit denen, die desertieren. Kriegsopfern
beistehen. Sich nicht national einreihen, sondern internationale Solidarität leben. Reichtum verachten und Armut hassen. An der Utopie vom Ewigen Frieden festhalten. Träumen. Schreiben.
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