Der Kapitalismus und ich

 

Über das Ende eines Glücksgefühls.

 

Ist es vorbei? Geht die Scheiße wieder von vorne los? Der Körper fühlt sich so an. Der Rücken verkrampft sich. Die Rückenmuskeln knacken. Nur mühsam schaffe ich es runter auf die Yogamatte.

 

Ich bin relativ früh ins Bett gegangen. Weil ich müde war. Aber schlafen konnte ich nicht. Eine innere Unruhe hielt mich wach. Jetzt beschleicht mich die Angst. Die Erinnerung kommt zurück. An die Schmerzen, die Unbeweglichkeit, die Krämpfe, das Zittern.

 

Die Umstellung der Medikamente brachte die Besserung. Das war im Herbst. Ich glaubte, mein neues altes Körpergefühl verdanke ich der Kompetenz meines neuen Neurologen.

 

Einen Moment lang dachte ich, Parkinson im Griff zu haben. Vielleicht gibt es sowas wie Aufschub. Was man sich so einbildet, wenn man glaubt, die Krankheit beeinflussen zu können. Weil man tief im Inneren doch denkt, man sei selbst verantwortlich. Alles eine Frage der Einstellung. Man muss nur wollen. Darauf achten, die Tabletten rechtzeitig zu nehmen. Und die Vitamine B und D. Ganz wichtig.

 

Es ist Viertel vor zwei. Ich sitze vor dem Tisch. Auf dem Tisch das Laptop. Zum Tippen reicht es nicht. Der Krampf außen unter dem linken Schulterblatt zieht mich vom Tisch weg. Ich versuche es mit der Diktierfunktion. Die Stimme schlurrt. Die Arme zittern. Der linke Arm folgt dem Krampf nach hinten. Ja, es ist wieder so weit.

 

Natürlich habe ich gesagt: „Ich genieße jeden Tag. Ich weiß, es geht nicht ewig so.“ Im Moment schlägt die Ernüchterung doppelt zu. Ich will mir nicht vorstellen, nochmal in die Tiefen dieser Krankheit hinunterzusteigen. Ich will es nicht mehr. Unbeweglich im Bett liegen. Hilfe beim Aufstehen brauchen. Den kurzen Weg zur Toilette nicht schaffen.

 

Den Erhöhung der Schwerbehinderung auf 80% zog ich zurück. Ich fühlte mich wie früher. Ich reiste allein. Im Nachtzug nach Schrems bei Wien. Die Rückfahrt über Prag. Der Aufenthalt in Berlin: Mit Rucksack und Tasche rauf in den 4. Stock. Dazwischen einige Tiefen, die mich aber nie hilflos werden ließen. Soll das alles wieder unmöglich sein?

 

Ausgerechnet jetzt habe ich die Idee, die beruflich interessant ist. Aber dazu muss ich stabil sein. Ungefähr so stabil wie der Kapitalismus. In der Wiener Wochenzeitung Falter lese ich: „Der Kapitalismus wird enden, ob wir das wollen oder nicht.“ Ulrike Herrmann verkündet das in ihrer Untersuchung  „Das Ende des Kapitalismus". Ihr Buch ist ein Knüller. Denn sie verkauft gute Laune. Wir müssen nur den Parteien klarmachen, dass jetzt Verzicht dran ist. Dann beschließen die das. Und schon ist es aus mit dem Kapitalismus.

 

Sie warnt vor Übereifer. Wir sollten jetzt nicht aufhören, Autos zu kaufen, denn das gefährde Arbeitsplätze. Frau Herrmann schwebt ein geordneter Übergang in die Kreislaufwirtschaft vor. Das Buch las ich vor Wochen zunehmend ärgerlicher. Jetzt weiß ich, warum. Sie stellt sich in die Tradition deutscher Revolutionäre, denen nachgesagt wurde, sie kauften vor der Besetzung des Bahnhofs eine Bahnsteigkarte. Ihren Fans gefällt´s. Genau deshalb.

 

Ich tippe mit dem Zeigefinger der linken Hand, nur das rechte Bein krampft noch. Solange ich mich mit solchen Interviews beschäftige, hat Parkinson nicht gesiegt. Es ist 4:45 Uhr. Gleich wird zurückgeschossen: ich nehme die ersten Pillen des Tages. Vielleicht bringen sie noch ein bisschen Aufschub. Das Absterben des Kapitalismus hätte ich gern erlebt. Ich fürchte allerdings, kampflos werden die Profiteure nicht aufgeben. Ich wahrscheinlich auch nicht.

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Kommentare: 1
  • #1

    heini (Donnerstag, 15 Dezember 2022 11:34)

    lieber stefan,

    du bist ein hammer. dein text ist brilliant. gratuliere.
    alle deine talente stecken in diesen zeilen: der kritische blick. der kampfgeist, und das innen und aussen, das immer auf der suche ist - so ist das leben.

    alles gute, stefan.
    herzlich,
    dein heini, GEA - Waldviertler