Vorwärts leben, rückwärts begreifen

Der Spiegel, Nr. 11/9. 3. 2024, verspricht auf dem Titel eine "Corona-Bilanz - Fehler und Lehren". Im Heft finden sich sechs Stellungnahmen.  Immerhin wird zugegeben, dass die Verurteilung der Impfgegner und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung ein Fehler war. So etwas wie eine Bitte um Entschuldigung bleibt bisher aus. Eine Diskussion über die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie muss unbedingt geführt werden. Ich habe schon während der Pandemie damit angefangen.


 

 

Hamburg, den 18. November 2021

Lieber A.,

 

Du hast Recht. Wir müssen nicht über Sinn und Unsinn der Impfung diskutieren. Zumal uns beiden klar ist, dass sämtliche Aktivitäten, mit der Pandemie fertig zu werden, nichts als Versuche sind. Was wir auch tun, ist risikobehaftet.  

Mir ist inzwischen etwas anderes wichtig. Es reicht nicht mehr, im Freundeskreis vernünftig zu reden. Wir müssen öffentlich klarstellen, dass Ungeimpfte keine gefährlichen Irren sind, weil sich ihre Bedenken von denen der Geimpften unterscheiden. Der Freiheitsentzug für Ungeimpfte ist virologisch unsinnig, individuell beleidigend und gesellschaftlich eine Katastrophe. Jetzt wäre es an der Zeit, sich solidarisch zu zeigen. Offen zu sagen, warum die Ausgrenzung der Nicht-Geimpften eine Schande ist.

 

Du schriebst: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts begriffen. Ich hoffe nur, dass es mit dem Begreifen noch früh genug klappt.

 

Deutsche Politiker können offenbar nicht anders. 2015 stellten sie die Ostdeutschen an den Pranger. Jetzt grenzen sie die Ungeimpften aus. Sie erklären die Abweichler von ihrem alternativlosen Kurs zu Outlaws. Das dürfen Demokraten nicht hinnehmen. Wo bleiben die lauten Solidaritätsbekundungen?

 

Ich verharmlose das Virus nicht. Ich glaube nur nicht, dass es den einen Weg gibt, der in der Pandemie beschritten werden muss.

 

Im aktuellen Streit gibt es allerdings zwei irre Positionen: Das sind die Hundertprozentigen. Also die Leugner und diejenigen, die glauben, das Virus sei zu vernichten. Beide Strategien fordern unglaublich viele Opfer. Wer weitere Lockdowns fordert, muss sich fragen lassen, ob die Opfer, die er hinnimmt, zu rechtfertigen – also verhältnismäßig – sind.

 

Ich freue mich, nachdenkliche Menschen zu treffen. In meinem Freundeskreis überwiegen diejenigen, die sich gegenseitig Vernunft unterstellen. Der recht große Kreis meiner langjährigen Freundinnen und Freunde stellt die Frage „Bist Du geimpft?“ nicht. Wir halten Abstand, wo er nötig ist.

 

Wir treffen uns privat. Weil wir das als Menschen brauchen. Persönliche Kontakte sind gesund. Freundschaft ist riskant. Sie erfordert Vertrauen. Sie scheut keine Kritik. Es lohnt sich, um sie zu kämpfen. Sie ist nicht gleichgültig. Sie verzeiht.

 

Ich habe zum Glück Freunde, die wissen, dass ich in gesellschaftlichen Zusammenhängen denke. Ich fühle mich – genauso wie Du – verantwortlich für die individuellen und die gesellschaftlichen Folgen meines Tuns.

 

Die das nicht sehen, entfernen sich aus meinem Freundeskreis. Wie sollte ich sie aufhalten?

 

Bis bald

 

Stefan

 

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