So tun als ob

 

Was tun, wenn eine Klinik zur Anti-Corona-Festung wird?

 

Nur im Bett ist der Patient vor den „Bestimmungen“ sicher. Überall sonst im Krankenhaus muss er Maske tragen. Nicht einmal gemeinsam zu essen ist den Bettnachbarn erlaubt – wegen zu großer Nähe. Aber Zweierzimmer haben eigene Gesetze. Der 83-Jährige, mit dem ich das Zimmer teile, heißt Waldemar. Er war mal Bergmann. Das verrät der immer noch muskulöse Körper. Er klagt nicht, leidet aber unter ständigen Schmerzen. Kaum habe ich meine Sachen eingeräumt, bittet er mich, ihm beim Ausziehen seines Pullovers zu helfen. Zum Glück gibt es keine Kameras oder Bewegungsmelder, die Masken-Alarm auslösen.  

 

Sobald jemand das Zimmer betritt, heißt es: Maske auf. Hinter vorgehaltener Hand schimpfen einige Schwestern über die monatelange Zumutung, mit Maske pflegen zu müssen. Wo doch alle hier im Krankenhaus geimpft oder getestet sind.

 

Das Engagement der Pflegekräfte bewunderte ich schon vor zwei Jahren. Ausnahmslos alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses evangelischen Krankenhauses im Ruhrgebiet sind höflich und behandeln uns wie Erwachsene. Ich mag den Umgangston „im Pott“. „Gucken Sie sich das Bein an", fordert Waldemar, „das schmerzt." Die Pflegerin kontert: „Dat Bein ist alt."

 

Parkinson ist eine komplexe Krankheit, die nicht heilbar ist. Meine Verfassung verschlechterte sich zuletzt zusehends. Ich hoffte auf drei Wochen komplementäre Therapie aus Schulmedizin und Traditioneller Indischer Medizin, für die das neurologische Team dieser Klinik bekannt ist. Zum Konzept gehört auch „Hilfe zur Selbsthilfe“, der organisierte Kontakt und Austausch mit anderen Kranken. Wie intensiv war das Stationsleben vor zwei Jahren, als ich zum ersten Mal hier war. Am großen Tisch im Flur saßen die Patienten zusammen, redeten, aßen, musizierten und lernten voneinander. Das war wohltuend, weil Parkinson die Fähigkeit, in Kontakt zu kommen, einschränkt.

Jetzt wirkt die Station wie ausgestorben. Wort- und blicklos bewegen sich einzelne Patienten über den Flur und weichen mir aus. Es kann doch nicht sein, dass alle außer mir sich aufs Zimmer zurückziehen. Dafür müssten sie nicht hier sein.   

Ich hatte mit Einschränkungen gerechnet. Nicht aber mit Bestimmungen, die das Krankenhaus zu einer Trutzburg machen. „Besuch nicht erlaubt!“ warnen Schilder. Warum verlangt der Virenschutz kompromisslos 100 Prozent, zu Lasten der medizinischen Qualität? Statt einer sachlichen Begründung, erhalte ich stets den Hinweis auf „die Bestimmungen“. 

Als ich vom Flur aus telefoniere, höre ich Hilferufe. Ich finde Waldemar kurz vor dem Absturz „auf halb acht“ vor der Toilettentür. Irgendwie hat er sich verklemmt und droht zu fallen. Ihn zu beruhigen, den schweren Körper festzuhalten – mit einem Bein einen Stuhl angelnd – die Notruftaste zu drücken und ihn sachte auf den Stuhl zu verfrachten, ist eins. Als die Schwester kommt, sitzt Waldemar bereits beruhigt vor seinem Schrank. Auf die Frage, warum er sie gerufen habe, antwortet er: „Ich suche mein Ladegerät.“

Meine erste Nacht war kurz. Waldemar schnarcht fürchterlich. Der Arzt hat kein Einzelzimmer zu bieten, wohl aber ein Medikament, das mich schlafen ließe. Ich verzichte. 

In der zweiten Nacht erwache ich wieder um zwei Uhr früh. „Kurwa“, flucht mein Bettnachbar. Er will zur Toilette. Als junger Mann malochte er im schlesischen Kohlerevier „vor Ort“, unter Tage. Jetzt macht er seinem Unmut mit polnischen und deutschen Kraftausdrücken Luft. Seine Blase wurde bei einer missglückten Prostataoperation zerstört und meldet ständig Harndrang. Verbissen kämpft er sich über die Bettkante. 

Wieviel Energie er noch hat. Besorgt, er könnte fallen, widerstehe ich dennoch dem Impuls, ihm zu helfen. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Er würde meine Hilfe als übergriffig abwehren. Also tue ich, als bemerkte ich nicht, wie der Mann schwer atmend dem Körper seinen Willen aufzwingt.

Einige Seufzer und Kurwa-Flüche, aber nur wenige Zentimeter weiter, biete ich meine Hilfe an. Steige aus dem Bett und halte ihn aufrecht, während ich ihm zeige, wie er sein schmerzendes Bein stellen muss. So geht das mehrere Male von zwei Uhr bis zum Frühstück. Die Schwestern können froh sein. Die Klingel betätigen wir die ganze Nacht nicht. 

Die Sonne scheint ins Zimmer. Sogar im Garten herrscht Maskenpflicht. Was soll´s, an die Luft muss ich nicht. Ich bekomme Vitamin D. Das ist das Gute an der Schulmedizin.

Vor allem freute ich mich auf Yoga. Vor zwei Jahren lernte ich hier diese fernöstliche Körpertechnik. Seitdem halfen die täglichen Übungen, den körperlichen Verfall aufzuhalten. Ich hoffte, mich unter Anleitung weiterzuentwickeln. Nun erfahre ich, auch beim Yoga herrsche Maskenpflicht.   

„Yoga befreit den Atem. Yoga mit Maske sperrt den Atem ein“, mein Argument hätte von der Yogalehrerin kommen müssen. Sie hätte auch auf die Größe des Raums hinweisen können, die es erlaubt, Abstand zu wahren. Aber sie erklärt, gegen die „Bestimmungen“ komme sie nicht an. Ich erkläre, Yoga mit Maske sei wie Fahrrad fahren mit platten Reifen. Sie versucht, mich mit „leichten Übungen, die auch mit Maske machbar wären“ zu locken. Als wäre ich zu meinem Vergnügen hier.

Der Stationsarzt bittet mich, am Yoga teilzunehmen, weil die Kassen sonst die Zuschüsse kürzten. Gut, ich will niemandem schaden. Mir geht es nicht um Krawall. Ich melde mich also beim Yoga an, mache die Übungen aber nicht mit. Das akzeptiert die Yogalehrerin nicht, worauf der Stationsarzt eine Idee hat: „Können Sie nicht wenigstens so tun, als ob Sie mitmachten?“   

Als ich nach dem Arztgespräch ins Zimmer komme, sehe ich meinen Bettnachbarn nackt und hilflos auf den Fliesen im Bad liegen, gestürzt. Ich drücke den Klingelknopf. Es dauert nach meinem Empfinden lange, bis die Schwestern kommen. Nachts klingelte ich nicht, weil ich wusste, wie überlastet die Nachtschwestern sind. Plötzlich zittere ich am ganzen Körper. Mir wird bewusst, welche Verantwortung ich übernommen habe.  

„Ich hätte es auch gern anders.“ Das höre ich hier, egal wen ich frage. Alle leiden an den Zuständen. Warum treffe ich niemanden, der sich für seine professionellen Belange stark macht? An erster Stelle muss doch die fachgerechte Behandlung der Patienten stehen. Aber ausnahmslos kommt sie erst an zweiter Stelle. Zu groß ist die Angst, mit einem Coronafall in die Presse zu geraten.

Vor zwei Jahren verließ ich die Station mit Elan. Jetzt schlurfe ich, den Rucksack voll mit Klamotten und Büchern für drei Wochen, zur Bushaltestelle. Fehlte noch, jemand hätte hinter mir hergerufen „Bleiben Sie gesund“. Ich verlasse die Klinik auf eigenes Risiko.                    

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