Ein Stups und die Stimmung kippt

 

Über Solidarität in der 1. Klasse

 

In einem ICE aus München am 12. September (2015): In der 2. Klasse drängen sich die Fahrgäste, unter ihnen viele Flüchtlinge. Die Stimmung ist gereizt. Auf die freien Plätze in der 1. Klasse dürfen sie nicht ausweichen. Dazu erklärt die Zugchefin: "Die (Fahrgäste der 1. Klasse) mögen das nicht".

Die Kinder der Flüchtlinge hatten noch die Luftballons vom Empfang in der Hand. Die geforderte Willkommenskultur hat sich entwickelt. Aber was kommt nach den Kleiderspenden und den rührenden Reden? Wer diese Frage in den letzten Wochen stellte, bekam patzige oder naive Antworten. Es sei doch schön, wenn sich Menschen engagieren. Es tue gut zu helfen. Nur im Kleinen könne man etwas erreichen. Aber was?

 

Zuwanderung macht Angst. Wir haben etwas zu verlieren. Organisationen wie „Pro Asyl“ wollen Zweifler beruhigen: Deutschland sei ein reiches Land, daran werde die Zuwanderung nichts ändern, im Gegenteil, Deutschland profitiere. Eine fragwürdige Botschaft.

 

Das Flüchtlingselend rührt an. Sie sind Opfer, also die Guten. (…) Die Rüpel aus der Unterschicht sind längst abgeschrieben. Sie haben laut offizieller Lesart ihre Armut selbst zu verantworten, weil sie dumm sind – bildungsfern. Jetzt kommen unverbrauchte, eifrige Menschen. Dieses Bild vermitteln einige Flüchtlingsunterstützer. Es wird sich zeigen, wie viele Fachkräfte unter den Flüchtlingen sind.


Die Gesellschaft (…) hat einen gemeinsamen Gegner gefunden: die Nazis. Prominente machen sich Luft, es wird sich geschämt, Kerzen werden angezündet. "Die teilweise aberwitzigen Gesetze, mit denen in den letzten Jahren überall in Europa die Lage der Fremden verschlechtert wurde, ohne dass sich dadurch irgendetwas für die arbeitenden oder nicht mehr arbeitenden Landesbevölkerungen gebessert hätte, haben aber nicht die vom sozialen Absturz bedrohten Fremdenfeinde erlassen, sondern jene Besser- und Sichergestellten, aus denen sich die Parlamente üblicherweise rekrutieren." Besser als Karl-Markus Gauß kann man es nicht sagen. Es ist leicht (und vollkommen selbstverständlich), sich von dummen, ordinären, gewalttätigen Prolls zu distanzieren. Viel leichter als die Politiker anzuklagen, die man gewählt hat.

 

Einwanderung verändert die Gesellschaft. Wer darauf einfache Antworten findet, kann politisch Karriere machen. Realisten werden keine einfachen Lösungen finden. Im Augenblick wäre es ein schönes Signal, wenn auch die Reisenden der 1. Klasse Platz machten.

 

Text gekürzt, vom 16. September 2015