Kopfstoß

 

Wie Parkinson versucht, das Regiment zu übernehmen.

 

Das muss jetzt gesagt werden. Das ist wichtig. Das kann nicht warten. Es kommt vor, dass es mich um drei Uhr nachts, nach vier Stunden Schlaf, an den Schreibtisch zieht. Dann schreibe ich einem Freund, was mich an der Freundschaft stört. Zum ersten Mal – so kommt es mir vor – deutlich und ungeschminkt. Oder ich kommentiere das Weltgeschehen, griffig und überzeugend.

 

Wie oft habe ich unfertige Gedanken auf facebook gepostet, schwache Artikel an Redaktionen geschickt. Weil mir eine Stimme sagte: das ist gut, das muss raus. Obwohl das Gefühl oder der Restverstand im Hintergrund Bedenken äußerten. Postings kann man löschen, Beiträge widerrufen (peinlich, aber schmerzfrei), verletzende Briefe sind in der Welt und wirken. Manche Leserin wird diesen Bericht hoffentlich als eine Bitte um Verzeihung verstehen. Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur nicht mehr dazu, könnte ich Udo Lindenberg abwandeln.

 

Es rüttelt mich, es schüttelt mich

 

Morbus Parkinson hieß früher Schüttellähmung. Die Erkrankten verlieren die Kontrolle über ihre Glieder. Noch kennzeichnender als das Zittern sei die Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeit, las ich irgendwo. Im dritten Jahr nach der Parkinson-Diagnose dämmert mir der Umfang, in dem die Krankheit mein Bewusstsein in den Griff zu nehmen droht.

 

Starke Medikamente helfen mir durch den Alltag. Trotzdem klingt meine Stimme leiser als ich sie empfinde; oft auch verwaschen. Trotzdem fällt es mir schwer, eine Stunde lang konzentriert zuzuhören und mich in Gruppengesprächen zu orientieren. Gegen diese Folgen des Mangels am Botenstoff Dopamin in meinem Gehirn hilft ein Erholungsschlaf. Die charakterlichen Veränderungen dagegen empfinde ich als Bedrohung.

 

Schon als Kind war ich ein Eigenbrödler. Jetzt bin ich noch lieber in den eigenen vier Wänden als früher. Die Sehnsucht zu Reisen – diese Zeitkrankheit, die fast alle Menschen quält, weil sie sich Alternativen zu ihrem Alltag nicht einmal mehr vorzustellen wagen – finde ich reizloser denn je.

 

Obwohl ich mich in der zweiten Reihe wohl fühlte, gehörte ich immer wieder zu den Wortführern. Ich war Klassensprecher im Gymnasium und Jugendsprecher im Handballverein; als Dozent bei der Diakonie und später als Journalist beim NDR-Fernsehen wurde ich gefragt, wenn eine Kommission zu besetzen war, um Angelegenheiten der freien Mtarbeiter zu verhandeln. Ich konnte das große Wort führen und war doch schüchtern.

 

Mein Sternbild ist Löwe, manchmal aber bin ich Jungfrau. Sternbilder bedeuten genau so viel wie man ihnen zugesteht. Ich gab nie vieldarauf, fand es aber immer schon bemerkenswert, in beiden Charakterisierungen getroffen zu sein. Mir kommt es vor, als steigere die Krankheit – oder ist es die Pharmazie? – mein Selbstbewusstsein bis zur Sucht nach Außenwirkung und als bremse sie mich gleichzeitig, wahrnehmbar zum Beispiel durch das Verstummen.

 

Vor der Diagnose, als ich noch glaubte, an einer Angststörung zu leiden, nahm ich den Kampf auf meine Weise auf. Ich besuchte eine Veranstaltung des Sozialpsychologen Harald Welzer mit der festen Absicht, mich zu Wort zu melden. Mein aufgeregt vorgetragenes Statement vor einem gutbürgerlichen grünen Publikum kanzelte Welzer arrogant ab. Ich war eine leichte Beute. Immerhin hatte ich mir gezeigt, dass ich es schaffen konnte, wenn ich meinen Mut zusammen nahm. Dass ich endlich wieder selbstbewusst auftreten kann, ist ein wichtiger Effekt der Medikamente.

 

Wann bin ich’s, wann bin ich’s nicht

 

Ich nehme sie, ohne dass ich den Beipackzettel en detail studiert hätte. Ist es die Krankheit oder sind es die Tabletten, die mich verändern? Die Frage erscheint mir wie die nach der Folge von Henne und Ei. Ohne die Medizin kann ich nicht leben. Sie ist ein Bestandteil der Krankheit.

 

Wenn ich die Arbeit am Computer immer wieder unterbreche, um an meiner Website zu frickeln, spüre ich deutlich, wie der Mitbewohner in meinem Oberstübchen das Heft in die Hand nimmt. Suchtverhalten im Umgang mit dem Internet ist eine Nebenwirkung der Medikamente, gegen die ich ankämpfe.

 

Schwerer wird es, einen angemessenen und gesunden Umgang mit Menschen zu pflegen. Ein Mann, dem ich eine – wie ich fand – sachlich berechtigte Kritik zugeschickt hatte, antwortete, er argumentiere nicht mit Polemikern. Ich las meinen Brief noch einmal und konnte ihn verstehen. Einer Auftraggeberin schickte ich nach einer Kritik an meinem Konzept eine heftige Anklage, in der ich mich gegen Rufschädigung verwahrte. Sie ist zum Glück eine tolerante Frau. Eine Freundin kritisierte meinen aggressiven Ton. Ich hatte ihn nicht bemerkt. Ich wollte nicht polemisch sein, bin nicht herrisch, empfand keine Aggression.

 

Ich verliere das Maß. Ich bin selbstgerecht geworden, überschätze mich. Dann versuche wie einst Muhammad Ali mein Gegenüber tänzelnd auszukontern. Oft verhalte ich mich wie ein in die Ecke getriebener Boxer. Schlage wild um mich, ohne zu bemerken, wann ich die Anderen vor den Kopf stoße.

 

Du hast keine Chance, nutze sie

 

Parkinson macht zugleich hektisch und langsam. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Die Wirkung der Medikamente nimmt im Laufe der Jahre ab. Die Zeit nutzen, arbeiten, meinen Unterhalt verdienen, so lange es noch geht: Das treibt mich an. Ungeduld ist die Folge und ein erhöhter Arbeitsdruck. Konkret wird es schwerer, das Tempo zu gehen. Mein Körper will nicht mehr so wie früher.

 

Mein Neurologe riet mir zu einer Gehirnoperation. Die Aussicht, wieder der Alte zu werden, war verführerisch; ebenso der Gedanke, nicht mehr von Tabletten abhängig zu sein. Ein Bekannter, der sich einen Chip ins Gehirn hat pflanzen lassen, schwärmte von den Vorteilen. Er habe wieder 85 Prozent seiner Leistungsfähigkeit. Aber er kann nicht schreiben, nimmt weiter Medikamente. Beides würde den riskanten achtstündigen Eingriff bei vollem Bewusstsein nicht rechtfertigen, rechtfertige ich meine Angst vor der Chirurgenhand am Hirn. Ich lasse mich lieber von Medikamenten manipulieren als von einem Computer. Irrational, aber ich kann nicht anders.

 

So ist jeder Tag ein Ringen um Normalität. „Parkinson macht stumm und einsam.“ Als ich den Satz in einem Nachruf auf den Boxer Muhammad Ali las, der im Endstadium der Krankheit nicht mehr sprechen konnte, saß ich in einem Gartenlokal und wartete auf meinen alten Freund A. Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir. Leise, zittrig und wahrscheinlich maskenhaft machte ich meine Bestellung. Der Kellner hatte mich bereits als Sonderling eingeordnet, wie ich aus seinem reservierten Verhalten schloss.

 

Ich sah A. kommen. Mit einem Stoffbeutel in der Hand wirkte er wie Forrest Gump. Ihm stand seine psychische Krankheit ins Gesicht geschrieben wie mir die Hirnerkrankung. In der Art, wie wir sprachen und uns bewegten, wirkten wir wie die beiden Alten aus der Muppet-Show. Ich spürte: Wer uns sah, hatte uns abgeschrieben. Wir wussten es besser.