Die ausgestreckte Hand

 

Über die Kraft der Würde

 

Man kann sich einbilden, zu den Aufgeklärten, den Gutmeinenden, zu den Glücklichen zu gehören, bis man in der aufgemotzten historischen Innenstadt von Vicenza einem Bettler gegenüber steht, der nicht zur Seite geht. Der einem in die Augen schaut und den Blick hält, während man selbst ausweicht und, vor Trotz und Scham vergehend, den Blick senkt. Weil man weiß, er steht da, vielleicht, weil er hungert, vielleicht, weil er traurig ist, in jedem Fall, weil er wie ein Mensch behandelt werden will. Ich bewundere die Stärke dieses jungen Mannes. Ist er auf dem Weg in den Norden oder gehört er zu denen, die für das üppige Angebot an Obst und Gemüse auf italienischen Märkten sorgen? Afrikaner, die illegal im Land bleiben, weil sie es nicht bis nach Deutschland schaffen.

Er öffnet seine Hand. Ihm jetzt einen Euro zu geben, würde die Situation retten. Ich wäre moralisch auf der sicheren Seite. Er könnte sich ein Brötchen kaufen. So könnte es jeden Tag zwanzig bis dreißig Mal gehen. Aber auf der Straße gebe ich nichts (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Betteln halte ich für die falsche Strategie. Es verstärkt und verewigt die Abhängigkeit. Als Bezieher einer kleinen Rente spüre ich es: Rente zu beziehen, fühlt sich anders an, als für seine Arbeit bezahlt zu werden. Ich fühle mich, ähnlich wie ein Bettler, vom guten Willen Anderer abhängig. Als chronisch kranker Mensch bin ich es ohnehin.

Wer bettelt, ist machtlos. Jeder Mensch braucht die Gewissheit, für sich sorgen zu können. Der Bettler appelliert an mein Mitleid. Ich empfinde es. Ich fühle mit ihm. Und verweigere ihm trotzdem – besser gesagt, deshalb – meine milde Gabe.


Mich kränkt Herablassung. Erfahrene und praktizierte. Indem ich ihm kein Geld gebe, bekenne ich mich zu der Rolle, die ich spiele, weil ich meine Geschichte annehme. So wie er seine ihm zugewiesene Rolle spielt. Auf Deutsch gesagt bin ich das Arschloch. Er hat die Arschkarte. Ich gehe weiter, lasse den Mann stehen. Er ist Sieger. Davon kann er sich nichts kaufen. Aber die Erfahrung meines schamvoll gesenkten Blicks, gibt ihm vielleicht ein Gefühl der Genugtuung.


Ich schäme mich. Und nehme mir vor, zumindest nicht zu schweigen über das Unrecht, das ich und meinesgleichen ihm und seinesgleichen antun. (Meine Frau gibt ihm den Euro. Das beruhigt mich).


Was hätte ich tun können? Angenommen, er hätte mir seine Hand zum Gruß entgegen gestreckt. Diesen Gedanken ließ ich nicht zu. Aber ich habe in ähnlichen Situationen schon Bettler angesprochen und eingeladen, mit mir Kaffee zu trinken. Das ruft Kellner und Gäste auf den Plan und endet in einer allgemeinen Überforderung. Aber die Richtung stimmt. Es geht um Solidarität, um die Notwendigkeit, die Welt gerecht zu machen. Um das, was wir vom Leben erwarten. Für uns und andere. „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“ riefen die Unzufriedenen im Pariser Mai 1968. Diese Losung fand ich immer schon klasse. Weil sie ein Sprengsatz ist.

 

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