Alexander Kluge zum Ukraine-Krieg

 

Ein phantastischer Text.

 

 

 

Vorstellungen von Glück sind ansteckend

DIE ZEIT (Peter Neumann): Herr Kluge, der Krieg in der Ukraine dauert nun bald ein ganzes Jahr, und Frieden ist vorerst nicht abzusehen. Viele fragen sich: Wie soll das enden?

Alexander Kluge: Krieg hört nicht auf Argumente. Der Krieg hat keine Vorgesetzten. Weder beherrscht Putin ihn, noch gehorcht er einer Großmacht wie den USA. Wie dieser gefährliche Krieg endet, weiß ich nicht. Umso mehr treibt mich die Frage um: Was machen wir nach dem Krieg?

ZEIT: In der Koalition gehen die Ansichten dazu auseinander: Annalena Baerbock sagte kürzlich, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen, Olaf Scholz hält daran fest, sie dürfe ihn nicht verlieren.

Kluge: Die Ukraine hat ihre Stellung in der Welt enorm gefestigt. Nehmen Sie das Bild im Kapitol in Washington. Der US-Kongress ist versammelt. Auf einer Riesenleinwand ist der ukrainische Präsident zu sehen. Die Gesetzgeber der USA, der Souverän, in Streichholzgröße. Nun können Sie ein Metermaß anlegen und daran die Maßverhältnisse des Politischen ablesen. Selenskyj ist zurzeit mächtiger als jeder andere Politiker in der Welt.

ZEIT: Warum gibt es dann immer noch keinen Frieden?

Kluge:Russland verhandelt nicht. Die Ukraine schließt Verhandlungen durch ihre Maximalforderungen aus. Und auch Deutschland und die Vereinigten Staaten entfernen sich weiter vom Verhandlungstisch, wenn sie jetzt Kampfpanzer liefern.

ZEIT: Was schlagen Sie vor?

Kluge: Ein Problem liegt darin, dass es sich nicht um einen Krieg handelt. Russland geht davon aus, dass es sich in einem unerklärten Krieg mit den USA befindet. Zweitens handelt es sich um den Bruderkrieg zwischen der Ukraine und Russland. Hinzu kommt ein Informationskrieg, ein Wirtschaftskrieg mit Sanktionen und nicht zuletzt bestehen Konflikte innerhalb des westlichen Bündnisses, das um sein Gleichgewicht ringt. Jede dieser Ebenen hat eine eigene Logik und braucht eine eigene Verhandlung. Die Lage ist so, dass sich hier verschiedene Wirklichkeiten verknäuelt haben. Wir haben es mit einem gordischen Knoten zu tun, den man nun aber auch nicht einfach zerhauen kann. Denn das Schlimme am Knoten ist, dass er aus lebendigen Menschen besteht, lebendigen, ineinander verhakten Verhältnissen.

ZEIT: Was dann?

Kluge: Wir müssen den Notausgang finden. Wir sehen ihn nur oft nicht.

ZEIT: Und dennoch soll es ihn geben?

Kluge: Lassen Sie mich ein Beispiel von weither holen: Als Alexander der Große mit seiner kleinen mazedonischen Streitmacht das Perserreich in einer Schlacht in Kleinasien besiegt hatte, tat er etwas für Herrscher recht Ungewöhnliches – er machte Pause. Er hörte auf. Er gründete Städte wie Alexandria samt Bibliothek. Dann wurde er erneut von den Persern angegriffen, und diesmal eroberte er die Hauptstadt von Persien und damit die dort vorhandenen Schätze. Diese Schatzkiste der Perser verteilte er über den Weltkreis. Und daraus entstand ein Wirtschaftswunder, später ein Geisteswunder, das wir heute Hellenismus nennen. Alexander vollzog eine Umkehrung: Den Machtgeiz der persischen Herrscher kehrte er um in Generosität.

ZEIT: Was meinen Sie mit Generosität?

Kluge: Alexander hat etwas gemacht, das der französische Soziologe Marcel Mauss als "Gabe" bezeichnet hat. Mauss hatte bei indigenen Völkern in Nordamerika Verschwendungsfeste beobachtet. Die Herrscher leiteten ihre Autorität regelrecht daraus ab, dass sie ihr gesamtes Vermögen bei einem Volksfest in einer einzigen Nacht verprassten. Das meine ich, wenn ich Generosität sage: die Umkehrung des imperialen Verhaltens. Nicht Festungsbau, nicht Tresorbildung, sondern Großzügigkeit.

ZEIT: Was heißt das für den Krieg in der Ukraine?

Kluge: Man gewinnt oder verliert die Kriege bei den Friedensverhandlungen. Deshalb ist auch die Neueinrichtung der Welt nach den Kämpfen so wichtig. Dass Panzerlieferungen helfen, den Krieg zu beenden, glaube ich nicht. Aber die Lieferung von Baumaterial für den Wiederaufbau der zerstörten Ukraine könnte die Einbildungskraft für die Zeit nach dem Kriege entzünden. Vorstellungen von Glück sind ansteckend. Es ist gewiss eine kontrafaktische Vorstellung, dass Russland und die Ukraine und der Westen gemeinsam Mariupol wieder aufbauen. Nichts ist weiter von der Realität entfernt als ein solches Bild. Und doch gehört so etwas zum Aufribbeln der Verknäuelung. Damit Mariupol wieder aufgebaut wird, muss aber auch in Russland etwas aufbaubar sein. Damit die Ukraine einen befriedigenden Sonderstatus in der EU erhält, müssen auch Interessen Russlands erfüllbar werden.

ZEIT: Momentan gibt es vor allem viel Hass aufseiten der Ukraine. Es heißt, es könne Generationen dauern, bis an eine Annäherung zu denken sei.

Kluge: Ich nehme diese Gefühle ernst. Aber jeder Krieg endet nur, wenn er vergessen wird. Wenn eine attraktivere Wirklichkeit ihn überholt.

ZEIT: Es gibt ein gutes, heilsames Vergessen – auch des Krieges?

Kluge: Der Schlaf ist der Gott des Vergessens. Wenn Sie siebzigmal geträumt haben, können Sie nicht mehr ganz so hassen wie vorher. Die Toten und die unter Trümmern verschütteten Kinder mahnen, den Krieg nicht fortzusetzen, sondern ihn zu beenden.

ZEIT: Zurzeit wird vor allem über weitere Waffenlieferungen diskutiert. Nach Kampfpanzern sollen nun auch Kampfjets und U-Boote folgen.

Kluge: Mir verschlägt das die Sprache. Die Bundesrepublik hat sich entschlossen, der Ukraine im Kampf für ihre unabhängige Existenz zu helfen. Sie ist nicht Kriegspartei, aber Verbündeter. Wenn sie jetzt mit Waffenlieferungen hilft, ist sie als Souverän dem eigenen Volk gegenüber verpflichtet, das Kriegsziel, die Suche nach dem Ende des Kriegs und den Nachkrieg mit dem Freund abzustimmen. Das ist nicht Gefühlssache, sondern Gebot der Souveränität. Es ist in der Präambel unseres Grundgesetzes als Friedensgebot verankert. Ingeborg Bachmann hat einmal gesagt, ebenso wichtig wie Tapferkeit vor dem Feind sei die "Tapferkeit vor dem Freund".

ZEIT: Was bedeutet das?

Kluge: Das bedeutet, dass ich prüfen muss, für welche Ziele mein Freund etwas von mir haben will.

ZEIT: Ist es nicht ganz normal, dass in der Öffentlichkeit über den richtigen Umgang mit dem Krieg gestritten wird?

Kluge: Das ist normal. Wir debattieren aber fast gar nicht darüber, welche Struktur den Krieg, wenn er endet, ablösen soll. Eine permanente Dissonanz auf dem eurasischen Kontinent ist das Rezept für Dauerkrieg. Das Wort Frieden klingt eigenartig zivilistisch und unpraktisch. Rettung aus dem Krieg ist aber eminent praktisch. Wenn es um Leben und Tod geht, sind die Auswege unerwartet und robust. Wie bei einem Schiffsuntergang. Ein Fallbeispiel: Stellen Sie sich den Salon der Titanic vor. Die Musikkapelle spielt Potpourris aus Southampton, während das Schiff schon fast unter Wasser ist. Angesichts der gefährlichen Situation wechselt die Kapelle das Unterhaltungsprogramm und spielt Lieder aus der Kinderzeit, traurige Lieder. Das bewegt einen Ingenieur, der da sitzt vor seinem Whisky und auf sein Ende wartet. Sein Blick fällt auf die Wandvertäfelung, diese kostbaren gebeizten finnischen Hölzer, und er erkennt, was für ein erstklassiges Baumaterial für Flöße das ist. Er lässt es abreißen. Er macht das zu Kunst verarbeitete Holz zu einem robusten Rettungsmittel: Er baut daraus ein Floß. Und auf diesem Floß sind die Insassen des Salons um fünf Uhr oben an der Wasseroberfläche.

ZEIT: Und doch sind wir zum Zuschauen verdammt.

Kluge: Das ist ein Irrtum. Wir sind längst auf der Titanic eingeschifft. Aber jetzt kommt es darauf an, ob zu dem Zeitpunkt, zu dem das Floß oben treibt, noch Rettungsschiffe unterwegs sind, die die Schiffbrüchigen aufnehmen. Damals waren sie es nicht. Weil die Öffentlichkeiten auf beiden Seiten des Atlantiks inzwischen von der Rettungsfrage zur Schuldfrage übergegangen waren.

ZEIT: Haben Sie Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges?

Kluge: In der Geschichte von uns Menschen sind Erfahrungen verborgen, die sagen: Es gibt fast immer einen Ausweg. In der Zukunft warten noch viele ungezeugte Kinder. Jedes will geboren werden – das ist mehr als ein Schutzengel.

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Inge Averdunk (Mittwoch, 22 Februar 2023 15:30)

    Uneingeschränkt: ja!

  • #2

    U.H. Peters (Montag, 27 Februar 2023 17:48)

    Leider nur eingeschränkt, kann ich zustimmen.
    Es fehlt in Alexander Kluges wirklich klugen und weitsichtigen Betrachtungen der eine immer mit zu bedenkende Aspekt, nämlich, dass putin und seine Entourage ihre Vorbilder in stalin und iwan II (Schrecklichen) sehen. Die von diesen Herrschern und Verbrechern vertretenen Menschenbilder, ich rede nicht von humanistischen, entlarven sie in ihrem Handeln als Verbrecher.
    Gerade die Bundesregierung gehört zu den Regierungen Europas, die sehr besonnen handeln und "Tapferkeit vor dem Freund" im Blick haben.
    Aber es dürfte klar sein, dass nicht Europa und die Nato putin in die Enge trieben.
    Jedes Volk kann frei entscheiden, zu welchem Bündnis es gehören will.
    Die Situation des "Untergangs der Titanic" hat einzig dieser Diktator zu verantworten.
    Dass dieser aber Interesse daran hat, dass das Floß, auf dem die Ukrainer sitzen, untergeht, mithin also keine Rettungskräfte aus Westeuropa und den USA zu Hilfe kommen, ist sehr klar geworden - nach über einem Jahr Krieg.
    Nicht nur der Krieg ist ein Dämon. Vielmehr ist der Kriegstreiber putin ein Kotdämon.
    Machen wir uns also weiterhin Gedanken, wie wir das zerstörte Land der Ukraine nach dem Krieg wieder aufbauen. Europa wird es tun! putin wird es nicht tun; wie auch, er oder seine Nachfolger werden zuerst und immer wieder viel in Russland zu tun haben, um nicht nur den Oligarchen ein schönes Leben zu ermöglichen.

  • #3

    Stefan Moes (Montag, 27 Februar 2023 22:27)

    "Das Wort Frieden klingt eigenartig zivilistisch und unpraktisch. Rettung aus dem Krieg ist aber eminent praktisch." Alexander Kluge schafft es – zumindest gedanklich – die Bemühungen um Frieden in die Offensive zu bringen. Wer Frieden will, meint oft, zuerst eine Analyse der Situation liefern zu müssen. Man glaubt, noch nicht dran zu sein. Erst wenn die Waffen schweigen, machen sich die Friedensbewegten an den Aufbau des Landes.

    Alexander Kluge sagt, Krieg ende nur, "wenn eine attraktivere Wirklichkeit ihn überholt." Jetzt braucht die Ukraine zivile Hilfe, jetzt brauchen die Menschen Wohnungen, jetzt brauchen sie Perspektiven. Mir hilft dieser Gedanke. Jetzt konfrontiere ich meine Friedensgruppe damit. Die Zeit drängt.