Nachdenken über Demokratie nach der Pandemie
An einem trüben Januarsonntag suchen wir Aufklärung im Thalia Theater. Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda[1] redet zur Eröffnung der Lessing Tage 2023. Der vom liberalen Bürgertum geschätzte Rhetoriker hat sich das Thema Zuversicht gewählt. Hier hat er ein Heimspiel.
Zu Beginn sinniert er über Tucholskys Regel, man könne über alles reden, nur nicht über 20 Minuten. Wird er über alles reden? Das herauszufinden, bin ich da.
Seit Wochen trage ich einen Satz mit mir herum: Im Rechtsstaat stecke die Hoffnung in den Grundrechten, schreibt Heribert Prantl[2]. Sie wurden während der Pandemie auf bisher nicht gekannte Weise eingeschränkt.
Schnell ist klar, der Senator verliert kein Wort darüber. Denn er hat mit der Einschränkung der Rechte während der Pandemie kein Problem. Jedenfalls keines, dass er uns mitteilen möchte.
Sein Publikum sind die Kräfte der Vernunft, die es mit Gender-Skeptikern, Rechtspopulisten und „Covidioten“ zu tun haben. Wer vernünftig argumentierend die Corona-Impfung ablehnt, gehört - ob er will oder nicht - zu den Spinnern. Er wird ausgegrenzt.
Den gesellschaftlichen Bruch, der durch die Pandemie entstanden ist, nimmt der Senator nicht wahr. Vielleicht nimmt er ihn nicht ernst. Wer weiß? Darüber spricht man nicht.
Gegen Ende der Pandemie veröffentlichten Zeitungen Aufrufe unter der Überschrift: „Wir müssen miteinander reden.“ Im ersten Moment war ich fast gerührt. Mir war es wichtig, wieder aufgenommen zu werden.
Was auf den ersten Blick einladend und offen wirkt, erweist sich als perfide Falle. Denn immer stand am Ende die Bekehrung der Nichtgeimpften. Die Mehrheit sieht sich im Recht. Das reicht.
Das könnte bleiben nach der Pandemie: Eine Gesellschaft, die sich einiges auf ihre freiheitliche Ordnung einbildet. Aber nur so tut als ob.
Es überrascht nicht, wenn der Kultursenator den Kulturschaffenden die Aufgabe zuweist, Raum für Utopie zu schaffen. Dieser Raum wurde in der Pandemie verschlossen.Die Kultur machte dicht oder verzog sich in virtuelle Räume. Wäre weniger Worst-Case-Denken mehr gewesen? Für mich eine wichtige Frage. Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Herr Brosda stellte sie nicht.
Die Art und Weise, wie er über den Krieg in der Ukraine sprach, verdeutlichte noch einmal, worum es neuerdings geht: Wer nicht bereit ist, sich vorbehaltlos auf eine Seite zu schlagen, findet sich als AfD-Freund in die Ecke gestellt. Solange ich dort Leute wie Heribert Prantl treffe, könnte mir das egal sein. Es ist offensichtlich Schwachsinn.
Aber die so reden und handeln, haben Macht. Sie machen davon Gebrauch. Sie grenzen aus. Wer sich im Krieg befindet, ob gegen das Virus oder gegen Putin - und sei es nur als Redner oder Journalist - braucht klare Fronten. Vielschichtigkeit stört. Bekenntnisse sind gefordert.
Ich habe nichts übrig für Putin und seine Oligarchen. Mich verbindet nichts mit Altkommunisten und AfD-Populisten. Wieso lande ich in dieser Ecke?
Die Rede macht noch etwas deutlich. Die scheinbar hochsensible bürgerliche Gesellschaft findet nichts dabei, die Unterschicht zu beleidigen. In Wort und Tat. Die soziale Frage zählt nicht mehr. Wer sich sozial unterhalb der Mittelschicht herumtreibt, muss sehen, wo er bleibt. Es gibt keine Sprache mehr für die solidarische Beschreibung der Unterschicht. Weil es keine Solidarität gibt.
In seiner Rede bezog sich der Senator kein einziges Mal auf diejenigen, die sich die Stufen hinauf ins Theater nicht zutrauen. Stattdessen stimmte er Kübra Gümüşay[3] zu, die einem radikalen Individualismus das Wort redet. Über Gendern kann man nicht reden. Das wird gemacht! Weil es vernünftig ist. Ende Gelände.
Auf diese Weise wird die öffentliche Diskussion zu einem Schlagwortabtausch. Reizwörter genügen, um Menschen abzustempeln und auszugrenzen.
Dem setzt der Kultursenator nichts entgegen. Er verlässt den Mainstream nicht. Er bleibt sich rhetorisch treu, bedient das Arsenal der Hoffnungsvollen von Bloch bis Tocotronic. Da gefällt er sich. Da fühlt er sich sicher.
In dieser Sicherheit entsteht keine Reibung. Das Theater ist kein Raum mehr, an dem Kunst auf Gesellschaft trifft. Was da gespielt wird, hieß früher Kunst im Elfenbeinturm. Mir fällt Hamlet im Thalia ein. Ich ging vorzeitig.
Mich erreicht die Rede nicht mehr. Das liegt nicht an mir. Der Redner hat mich nicht mehr auf dem Zettel. Wie sang Franz-Josef Degenhard früher: Sie kommen
immer mit dem Grundgesetz. Sind Sie etwa Kommunist?
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