Die Welt ist gar nicht so

 

Aus dem Tagebuch eines Lohnschreibers

 

Dass die Welt vor die Hunde geht, ist ein Allgemeinplatz. Mit ziemlicher Sicherheit wissen das auch die älteren Herrschaften, die Tag ein Tag aus die Cafés und Gaststätten In Travemünde, Waren oder Kempten bevölkern. Es sind nicht überall dieselben Menschen. Aber es ist überall derselbe Menschenschlag. Leute, die hart arbeiten oder hart gearbeitet haben und glauben, die Welt schulde ihnen etwas: endlich in Ruhe gelassen zu werden.

 

Vor einem halben Jahrhundert verbrachte ich mit meinen Eltern und zwei Geschwistern die Hälfte der Sommerferien im Allgäu. Drei Wochen Urlaub kann sich heute niemand mehr leisten. Auf dem Dorf roch es damals noch nach Kuhmist. Die Viecher grasten draußen auf saftigen Weiden. Abends wankten sie heim, um sich melken zu lassen. Das Läuten der schweren Kuhglocken gehört zu meinen Kindheitserinnerungen. Diese Welt bemüht nicht einmal mehr die Tourismuswerbung. Trotzdem suche ich danach, wenn ich in diese Gegend fahre. Ich bin wahrscheinlich nicht der einzige, der mit solch romantischen Bildern im Kopf, dort für ein paar Tage Urlaub macht. 

 

Der amerikanische Autor Don DeLillo zitiert als Motto seines neuesten Romans Albert Einstein: Ich weiß nicht, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg geführt wird. Der Vierte wird mit Steinen und Stöcken geführt. Ich kaufte mir das Buch. Ob trotz oder wegen des Zitats, keine Ahnung. Jedenfalls traue ich mir zu, die 116 Seiten noch zu schaffen.

 

Manchmal begegne ich Menschen, die mich glücklich machen. Einfach, weil sie so sind, wie sie sind.  Die junge Frau zum Beispiel, die mit ihrem Elan ein Hamburger Bürgerhaus rockte. Wie soll ich es sagen? Bürgerhäuser erscheinen mir wie Orte, an denen aus Begeisterung Routine, aus Initiative Frust, aus Bewegung Stillstand wird. So merkte sie schnell, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren. Sie wird jetzt Hebamme.

 

Die mit Lagerhallen zugestellten Landschaften mit ihren Maisfeldern und Windrädern am Horizont bieten kein Landleben mehr. Viel zu viel Vieh vegetiert versteckt in riesigen Ställen. Es ist schon ein paar Jahre her, da radelten wir dorthin, wo ich glückliche Urlaubstage verlebte. Das Ehepaar Huber lebte noch in dem Haus, das damals am Dorfrand lag. Nun war es umgeben von Werkshallen. Hier hoffen hart arbeitende Menschen auf die paar Wochen, in denen sie sich mit etwas Ruhe im Urlaub belohnen zu dürfen.

 

Dabei kann es nur die Ruhe vor dem Sturm sein. Hinter den potjomkinschen Kulissen üben seit einigen Jahren die NATO-Armeen den begrenzten Atomschlag. So viel zur Phantasie der Generäle.

 

Ich sitze im Straßencafé, um mich an Eisschocklade zu erlaben. Aber ich bin nicht fähig zur Idylle. Ich bin nicht sicher, ob es mich glücklich machte, Kindern auf die Welt zu helfen. Andererseits. Die Welt ist gar nicht so. Sie ist ganz anders.

 

Geschrieben am 20. 10. 2020. Wiedergefunden am 26. 01. 2023.

 

Stefan Moes    moes@hamburg.de

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